Marcel Reich-Ranicki hat die wichtigsten und schönsten Arbeiten Koeppens aus Zeitungen und Zeitschriften ausgewählt und in fünf Gruppen geordnet. Die erste versammelt Aufsätze über Balzac, Flaubert, Zola und Lautréamont, Shelley und Oscar Wilde, Grimmelshausen, Kleist und Chamisso; die zweite Essays und Glossen über Thomas Mann und Döblin, Kafka, Robert Walser und Karl Kraus, Marcel Proust, Hemingway und Henry Miller. Die dritte Gruppe ist den Zeitgenossen gewidmet: Hermann Kesten, Alfred Andersch, Peter Weiss und Horst Krüger. In der letzten Gruppe erzählt Koeppen von seinen ersten Begegnungen mit der Literatur und polemisiert in dem bis heute höchst aktuellen Plädoyer »Die elenden Skribenten« gegen stereotype Vorwürfe gegenüber Schriftstellern.
(Offizieller Verlagstext/Klappentext)
Buchkritik
Zunächst einmal: Wo im offiziellen Verlagstext oben ist die vierte Gruppe hin? In meiner Buch-Ausgabe, die allerdings eine ältere ist als die im Beitragsbild gezeigte (nämlich die 1. Auflage Hardcover von 1981), behandelt Koeppen in der oben verschwiegenen vierten Gruppe Gedichte von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Friedrich Schiller, Karoline von Günderode, Friedrich Rückert, Annette von Droste-Hülshoff, Rainer Maria Rilke, Wilhelm Lehmann und Alfred Lichtenstein. Soviel nur vorab zur Komplettierung des zu erwartenden Inhalts.
Was ist es?
Dieses Buch ist eine Zusammenstellung heterogener Texte Wolfgang Koeppens (1906-1996), herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki. Im Untertitel werden sie unter dem Begriff „Aufsätze“ zusammengefasst. Die Texte sind überwiegend Koeppens Spätwerk zuzuordnen, nachdem er seine Roman-Trilogie Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom veröffentlicht hatte. Bücher, auf deren Erscheinen in den 50er Jahren die Reaktionen eher verhalten waren, die aber aus heutiger Sicht von vielen zu den bedeutendsten Werken der Nachkriegsliteratur gezählt werden. Reich-Ranicki, der zu den frühesten Förderern und Fürsprechern Wolfgang Koeppens zählt, erklärt die anfängliche Zurückhaltung des Lesepublikums damit, dass der Stil der Bücher zu modern gewesen sei. Bereits ab den 60er Jahren erhielt Koeppen dann aber für sein literarisches Schaffen einige Preise und Ehrungen (u.a. 1962 den Georg Büchner-Preis; Koeppens Dankesrede diesbezüglich ist in dem Band enthalten), was die Erwartungen der Öffentlichkeit hinsichtlich der kommenden Werke schürte. Sein Verleger, Siegfried Unseld, erwartete, mit dem nächsten Roman soetwas wie den deutschsprachigen Ulysses von Koeppen geliefert zu bekommen. Doch Koeppen lieferte nicht. Reich-Ranicki bemühte sich, Koeppen zum Schreiben zu bewegen. Aber Koeppen ließ sich nur schwer bewegen. Es kam kein Roman mehr.
„Ich hatte gehofft, ihn zum Schreiben zu bringen. Und es ist mir auch gelungen, in sehr bescheidenen Grenzen. Also habe ich ihm immer wieder Aufträge gegeben, Bücher des 19. Jahrhunderts für die FAZ zu rezensieren. Manche dieser Bücher habe ich überhaupt nur besprechen lassen, damit er Aufträge erhielt. Aus diesen Artikeln ist dann Koeppens Buch Die elenden Skribenten entstanden. Ich glaube, es ist ein wichtiges Buch, aber natürlich kein Ersatz für den Roman, den ich von ihm zu bekommen hoffte.“
(Marcel Reich-Ranicki in einem Interview in der „Welt“ anlässlich von Wolfgang Koeppens 100. Geburtstag. Das komplette Interview findet man hier.)
Koeppens ausbleibender Roman
Der nächste große Roman von Koeppen kam bis zu seinem Ende nicht. Merkwürdigerweise kündigte er einen solchen aber immer mal wieder – unter verschiedenen Titeln – an. Ob er tatsächlich an einem solchen arbeitete oder die baldige Fertigstellung lediglich behauptete, um lästige Nachfragen zu parieren, weiß ich nicht. Jedenfalls entstanden in der Zeit seines „Schweigens“ stattdessen Reiseberichte und Auftragsarbeiten, wie eben jene in dem hier besprochenen Band. (Auf dem Blog von Matthias Engels findet man übrigens einen schönen kleinen Beitrag zu Koeppens Schweigen.)
Die Texte und ihre Form
Die im Buch Die elenden Skribenten versammelten heterogenen Texte sind subjektiver, spielerischer Natur. Man könnte sie wohl am ehesten als Essays bezeichnen. Sie sind keine analytischen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen ihrer Gegenstände. Dafür haben sie selbst zu viel Literarizität an sich. Koeppen arbeitet oft mit Parataxen, des öfteren auch mit ellenlangen Bandwurmsätzen, die sich über eine halbe Seite oder mehr erstrecken können. Doch dabei gerät Koeppen nicht, wie man annehmen könnte, ins Schwafeln, sondern reiht präzise Beobachtungen, sachliche Feststellungen und subjektive Einschätzungen aneinander, die in ihrer Gesamtheit hochverdichtete Bestandsaufnahmen ergeben. So zum Beispiel der Anfangssatz zu „Zola und die Moderne“:
„Emile Zola wurde am 2. April 1840 in Paris geboren, in eine der ersten wegweisenden und hoffnungsvollsten Epochen naturwissenschaftlicher Forschungen und Erkenntnisse, die das Ende der romantischen und idealistischen, der sentimentalen und verlogenen, einer peinlich demütigen und lächerlich eingebildeten Weltbetrachtung bedeuteten und die Menschen hätten vernünftiger, die Erde bewohnbarer, das Leben humaner machen können, die meisten aber im Gegenteil zunächst mehr verwirrten als aufklärten, ihnen neue Ängste brachten, ihren Egoismus, ihren Geburts- und Clandünkel, ihre Gegensätzlichkeiten und Feindschaften hochtrieben, statt sie das allgemeine Miteinander rechtzeitig vor den Katastrophen, die kommen sollten, zu lehren.“
Koeppens Aufsatz zu Döblin beginnt mit einem ähnlich langem Atem, nämlich einem Satz, der die Hälfte der Seite einnimmt; doch entwirft die plastische Beschreibung Stettins am 10. August 1878 eher ein poetisch aufgeladenes Szenario, in das Döblin hineingeboren wird.
„Ein langer, heller Tag im nordischen Sommer, die weie Sonne hitzt die Stube, in der einer zur Welt kommt, das satte Licht wandert mit den Gerüchen des Schlicks, des Teers, des Salzes von den Segeln, die sich noch über den Wellen entfalteten und nun gerefft unter dem Fenster lagen, dem Rauch der Schleppdampfer, der die Wände rußte, den süßen oder beizenden Aromen der Frachten, den Schmalz- und Fischdünsten aus Schiffskombüsen und Nachbarschaftsküchen über die beladene Oder um Wochenbett, Nähmaschine und Bügeltisch, Amerika und China stehen Pate, Kopenhagen, Stockholm, Sankt Petersburg sind gute und böse Feen, Helsingör nicht zu vergessen, nicht Senta, der Klabautermann, die Heiligen und Märtyrer der Religionen, Systeme und Gedanken, im Erdkreis, irgendwo, Stettin, 10. August 1878, Bollwerk 37.“
Das Größte und das Kleinste, die Welt geht auf in einem Satz. Die Alltagswelt, bis in die kleine Stube, und die großen Zusammenhänge damaliger europäischer Welterfahrung, bis ins Mythische verklärt. Das ist so anschaulich beschrieben, dass man alles sehen, riechen und schmecken kann. Man ist dort.
Aber wie gesagt, der Autor liebt auch die Parataxe und schreibt manchmal auch in der Art, wie er den Aufsatz über Balzac beginnt:
„Er war Paris, er war Frankreich, und er war sein Jahrhundert. Er war der Anatom, der unter die Haut ging und den Schnitt fühlte, der Analytiker, der die ehrgeizigen, die wollüstigen und schrecklichen Träume träumte.“
Adorno schreibt in Der Essay als Form, dass der Essay sich sein Ressort nicht vorschreiben lasse, dass er die Muße des Kindlichen widerspiegele. Glück und Spiel seien ihm wesentlich, er setze mit dem an, worüber er reden wolle, sage, was ihm daran aufgehe und breche dort ab, wo er sich selber am Ende fühle, und nicht etwa dort, wo alles Mögliche gesagt sei und nichts mehr übrig bliebe zu sagen, weil es keinen Rest mehr gebe.
Vgl. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1997, S. 10.
Diese Essay-Definition trifft ziemlich genau auf Koeppens Texte zu. Glück und Spiel im Umgang mit seinen Gegenständen sind die bestimmenden Elemente seines Schreibens. Und vielleicht hier und da eine gewisse Verliebtheit in das zu Beschreibende. Seine Aufsätze sind immer von einem sinnlichen Interesse geleitet, nie lässt ihn der Gegenstand seiner Betrachtung kalt. Wenn es sich auch bei einem Großteil oder gar allen der in diesem Band zusammengestellten Texte um Auftragsarbeiten für Zeitungen und Zeitschriften handelt, so hat man doch das deutliche Gefühl, dass der Autor es niemand anderem recht machen möchte, als sich selbst. Und das ist durchaus positiv gemeint. Koeppen schreibt nur über das, was ihn angeht.
Die elenden Skribenten
Es ist ein gewisser Hang zur Bewunderung und Verehrung zu spüren, um die es Koeppen in Behandlung seiner Schriftstellerkollegen und -kolleginnen zu tun ist, was seinem Schreiben etwas Glitzerndes und Schwelgendes, zuweilen etwas Enthusiastisches und Jugendlich-Schwärmerisches verleiht. Den Vorwurf der Naivität aber, der damit einhergehen könnte, kann man ihm an keiner Stelle machen, denn nie macht sich Koeppen mit seinem Gegenstand gemein, sondern wahrt immer einen angemessenen Abstand der diskreten Betrachtung, manchmal zwar gepaart mit einer erstaunlichen Intimität, aber nie parteiisch vollständig vereinnahmt. Er behauptet jederzeit seinen eigenen Beobachtungsstandpunkt.
„Seine Liebe gilt den Nichtdazugehörenden, die sich überall fremd fühlen, den Nonkonformisten, die ihren Platz nicht finden können und meist auch nicht finden wollen, den frommen Sündern und den gefallenen Engeln, den Siegern, die leer ausgehen und unglücklich bleiben, und den Besiegten, deren Werk schließlich doch triumphiert, wenn auch oft erst nach ihrem Tod.“ (Reich-Ranicki im Nachwort)
In Koeppens Aufsätzen über andere Schriftsteller lassen sich sowohl inhaltlich als auch formal Fragmente seiner eigenen Poetik vermuten. Der „Essayist Koeppen bewährt sich als ein Meister der sinnlichen Vergegenwärtigung“, wie es Reich-Ranicki im Nachwort des von ihm herausgegebenen Buches treffend beschreibt. Wie hier ein Schreibender über Schreibende schreibt, daraus lässt sich viel erfahren – über das Schreiben und darüber, was Literatur ist und was ein Leben in der Literatur bedeuten kann. Halb draußen, halb drinnen.
„Ich bin, glaube ich nun, nicht zuletzt deshalb Schriftsteller geworden, weil ich kein Handelnder sein mag. Ich liebe es nicht, mich auf den Markt zu begeben und zu reden. Ich bin kein Mann des geselligen Mittelpunktes. Ich bin ein Zuschauer, ein stiller Wahrnehmer, ein Schweiger, ein Beobachter, ich scheue die Menge nicht, aber ich genieße gern die Einsamkeit in der Menge, und dann gehe ich in mein Zimmer, an meinen Tisch und schreibe oder versuche es wenigstens. Das Buch, das so vielleicht aus Welterleben und Klausur entsteht, gebe ich meinem Verleger, der sendet es in den Handel, und dann geht mich die ganze Geschichte nichts mehr an.“ (Auszug aus Rede zur Verleihung des Georg Büchner-Preises 1962)
In seinen Portraits der Schriftstellerkollegen zeichnet Koeppen jeweils mit wenigen, aber unglaublich treffenden und präzisen Strichen das historische, politisch-gesellschaftliche Setting, in dem sich die betrachteten Figuren bewegen. Immer sind diese Figuren innerhalb dieser Umgebung in gewisser Weise in einer Außenseiterposition. Ein solcher Standort ist für Koeppen der natürlich angestammte für einen Schriftsteller: außerhalb der Gesellschaft, mit der er sich in einem aporetischen Widerspruch befindet.
„Der Skribent sitzt zu Hause an seinem Tisch, er saugt sich´s aus den Fingern, er richtet seinen Blick ins Leere oder ins Schwarze oder Helle, und sein Blick durchdringt die Türen, die Mauern, die geschlossenen Jalousien, er dringt durch die Kleidung, er dringt ins Herz, und er sieht im Herzen der Menschen die Wahrheit, die Süße und die Bitternis des Lebens, sein Geheimnis, seine Angst, seinen Schmerz, seinen Mut.“
Bleibt noch zu erwähnen, dass der titelgebende Aufsatz „Die elenden Skribenten“ eine Replik war auf empörte Reaktionen einiger Zeitgenossen Koeppens, die sich fälschlicherweise in seinem Roman Tauben im Gras (1951) von ihm porträtiert und parodiert sahen. Bei der Beschreibung des Allgemeinen anhand fiktiver Beispiele hatte Koeppen das Spezielle und Konkrete der Wirklichkeit getroffen. Weil er ein guter Beobachter war.
Fazit
Die Essays sind schön und lesenswert. Und während man sich an Koeppens meisterhaft souveränem, aber nie (im negativen Sinne) routiniertem Umgang mit der Sprache erfreuen kann, erfährt man nebenher noch die eine oder andere literaturgeschichtliche Begebenheit, von der man vorher noch nichts wusste. Manchmal vielleicht subjektiv und assoziativ von Koeppen hergeleitet, aber doch immer interessant. Wolfgang Koeppen kann Vieles mit der Sprache. Und wenn man diese Textsammlung gelesen hat, kann man verstehen, warum Reich-Ranicki und Unseld und wahrscheinlich noch so mancher andere auf einen nächsten großen Roman von ihm gehofft hatten. Vergeblich. Leider. Aber der Skribent Koeppen wird seine Gründe dafür gehabt haben, die irgendwo zwischen Welterleben und Klausur lagen.
Das Buch:
Wolfgang Koeppen: Die elenden Skribenten. Aufsätze. Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki (Suhrkamp 1984)
315 Seiten, 4,95 €, ISBN: 978-3-518-37508-2
Der Autor:
Mehr zu Wolfgang Koeppen findet man u.a. auch auf der Seite Koeppenhaus.de
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