»Anarchy!«, brüllen sie in naiver Begeisterung am Bimmelsdorfer Strand und rennen los. Die Vorgarten-Rasenmäher im Nacken, werden Horsti und seine Clique von Ordnungsmenschen, Altnazis und der bleiernen Zeit nach dem Wirtschaftswunder schikaniert – bis sie lernen, sich zu wehren.
Sie beginnen auszubrechen, dahin, wo es Freiräume gibt. Horsti wird Profi im Überlisten von Cheftypen. Immer geschickter bastelt er an dadaistischen Täuschungskonzepten, verweigert den Wehrdienst und flieht in die Großstadt. „Gemeinsam sind wir stark!“ Zwischen letzten bürgerfeindlichen Stadtteilen und selbst geschaffenen Strukturen suchen die „genialen Dilettanten“ nach einer kollektiven Haltung. Gegenkultur, »penniless jetset«, Anti-Kunst und ganz viel schlecht mitsingbare Musik. In ihrer Angriffslust steckt die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Scheißebauen und lebenswerten Utopien. Und dann die Reibung an den Institutionen: Horsti inszeniert Opern, lernt alles kennen, was in der Welt der Hochkultur Rang und Namen behauptet – und bleibt Aktivist und Zweifler. Am Ende erkennt er, dass all die Widersprüche Teil seines Lebens geworden sind. Schorsch Kameruns Geschichten sind die Erinnerung an eine rasende Biografie, wie er sie selbst erlebt hat. Er erzählt von rauschhaften Experimenten und unerforschten Kampfzonen bei ständiger Haltungsüberprüfung, von einer »Ästhetik des Widerspruchs«, vor allem aber von dem Ringen um Integrität.
(Offizieller Verlagstext/Klappentext)
Buchkritik
Es ist nicht wirklich ein Roman. Es sind eher chronologisch angeordnete, (autobiographisch gefärbte) anekdotische Episoden, die durch ihre zeitliche Abfolge aber durchaus eine Entwicklung des Protagonisten deutlich werden lassen, wodurch gewissermaßen doch eine Geschichte erzählt wird. Von den Anfängen als Schüler und Auszubildender in einem kleinen, vom Tourismus lebenden Vorort an der Ostsee bis zum Leben als Musiker und Theaterregisseur in Hamburg. Einen klassischen Handlungsstrang, der die Geschichte vorantreibt und definiert, gibt es aber nicht. Es werden zwar sporadisch wiederkehrend die gleichen Figuren erwähnt, die im Leben des Protagonisten eine Rolle spielen, allzu viele Interaktionen zwischen den einzelnen Charakteren werden jedoch nicht erzählt. Vielmehr wird berichtet. Die einzelnen Figuren dienen im Wesentlichen dazu, um an ihnen den Geist der Zeit und der Strömung, der der Protagonist zugehört, zu exemplifizieren.
Ein kurzes Interview mit Schorsch Kamerun zu seinem Buch und dem autobiographischen Anteil daran, findet man hier (kulturnews) und hier (taz).
Diese Form, das Verzichten auf eine stringente Handlung, ist durchaus konsequent. Der Protagonist Horsti, der sich in TommI from Germany (mit großem „I“) umbenennt, verrät schon an früher Stelle im Buch, dass er seine Jugend nur noch als „Aneinanderreihung verschleierter Traumsequenzen“ erinnert. Und an anderer Stelle erwidert er auf den Vorwurf seiner besten Freundin Kitty against Kitty, er könne keine Geschichten erzählen, wie folgt:
„Ein heutiges Leben besteht aus Konfettifetzen, die zu einem Flickenteppich vereint, ein für den Einzelnen kaum mehr zu überschauendes Bild ergeben. Wie soll man ein solches Dasein angemessen wiedergeben?“
Es ist denn auch nicht so sehr die Wiedergabe der Erlebnisse eines Einzelnen, die in einer stringenten Geschichte zu erzählen wären, sondern eher die Wiedergabe des Lebensgefühls der Jugendlichen des linken Milieus in den 80ern. Und dies ist sehr anschaulich und treffend dargestellt. Tatsächlich entspricht die Darstellung darüber hinaus auch dem linken Milieu der Jugendkultur etwa 15 bis 20 Jahre später (die Zeit, in der sich der Rezensent dort aufgehalten hat) und vielleicht sogar heute noch; mit dem Unterschied, dass die Anfangseuphorie der Bewegung schon längst einem grundsätzlichen Zweifel an der Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Realität gewichen zu sein scheint. Man weiß um die Missstände, glaubt daran, theoretisch die Lösungen zu kennen, hat aber praktisch keine Handhabe, um wirklich etwas zu ändern. Mehr als hier und da vereinzelte und inhaltslose Rufe nach „Revolution“ (ähnlich wie in Kameruns Buch „Anarchy!“ gerufen wird) kommen dabei kaum heraus. Doch das nur am Rande.
Was nicht so gut ist
Kameruns Buch fällt immer an den Stellen etwas ab, wenn es gesellschaftliche Zustände explizit kritisiert. Es muss nicht gesagt (und gelehrt) werden, was die Leser des Buches vermutlich sowieso schon wissen. Allerdings kommen solche Stellen im Buch wiederum auch nicht allzu häufig vor, was beinahe darüber hinwegsehen lässt.
Was sehr gut ist
Besonders interessant ist es hingegen, wenn dargestellt wird, wie die anfängliche Gegenkultur mehr oder weniger zwangsläufig vom Mainstream vereinnahmt und geschluckt wird. Tommis Bemühen, dieser Entwicklung in seinem künstlerischen Schaffen etwas entgegenzusetzen, scheint ebenso verzweifelt wie aussichtslos. Das zeigt sich besonders deutlich, als er in Hamburg als Theaterregisseur an einem renommierten Hause inszeniert.
„Tommi und sein Team hatten ein Schauspiel vor Augen, das sich für den Zuschauer wie ein melancholischer Zustand anfühlen sollte. Auf keinen Fall aber wie ein richtiges Stück mit all diesen konventionellen Beschränkungen. (…) Denn durch nichts anderes als durch eine alles betäubende Melancholie sei nun mal aktuell am besten zu beschreiben, wie die Gesellschaft in ihren überkomplexen Verstrickungen, Angeboten und Möglichkeiten taumelt. (…) So weit die Idee von Regisseur Tommi from Germany.“
Diese hehren Absichten werden aber vom Theaterbetrieb unterwandert und ausgehöhlt. Die vormals als radikales Formerlebnis geplante Aufführung wird im Laufe des Entwicklungsprozesses aufgrund verschiedener Einwände seitens des Theaters immer weiter zusammengedampft.
„Denn, so der Institutionsleiter, die Leute verstünden auf dieser Welt heutzutage sowieso nur noch Bahnhof und hätten deshalb sicher nichts dagegen, wenn sie im Theater nicht auch noch von pessimistischen und um tausendundeine Verkomplizierung ringenden Regienarzissten hirngefickt würden. Auch befand er, dass man auch gleich zu Hause bleiben könne, wenn man Tommis tendenziell überengagiertes Avantgarde-Konzept in seiner trotzdem leicht durchschaubaren Abgewandtheit einmal logisch zu Ende denken würde. Denn da sei ja auch immer nur Generve.“
Gerade diese Stelle finde ich sehr lustig, weil sie auf den Punkt bringt, wie man sich mit künstlerisch-gesellschaftspolitischem Anspruch im Kulturbetrieb aufreiben kann und wie man gegen betriebswirtschaftliche Wände läuft, wenn man wirklich experimentell arbeiten möchte. Das geht bestenfalls nur in der freien Szene, aber kaum in den renommierten Institutionen. Und so wird aus der ursprünglich subversiven Inszenierung schließlich ein „ganz schöner Liederabend“, wie es Tommis Freundin Kitty against Kitty treffend ausdrückt.
„Umso absurder war es, als derselbe Kulturdirektor Tommi und sein Ensemble beim Premierenapplaus hysterisch und mit Nachdruck aufforderte, sich viel öfter als notwendig zu verbeugen. „Raus! Raus! Alle noch mal raus auf die Bühne! Geil, geil, geil! Geil! Tommi! Das wird Kult“, schrie er in der Sekunde, als ihm klarwurde, dass es vor dem Vorhang ein ordentliches Geklatsche gab.“
Ja, so läuft das. Und so vermittelt das Buch von Schorsch Kamerun auch einen ganz schönen Eindruck vom Spannungsverhältnis zwischen künstlerischem Anspruch und den Bedingtheiten der Umsetzung, sobald man sich in die Sphäre von Mainstream und Massenkompatibilität begibt.
Besonders sympathisch ist dabei die etwas ironisch gebrochene Perspektive, mit der der Erzähler Tommis Werdegang, seine persönliche sowie künstlerische Entwicklung begleitet und dabei auch immer wieder das Auseinanderdriften von ideologischer Vorstellung und praktischer Wirklichkeit, das Hadern des Protagonisten mit der Unmöglichkeit der Umsetzung ideologischer Vorstellungen zeigt. Das Ideal wäre, sich radikal zu verweigern und nicht mitzumachen, aber die lebensweltliche Wirklichkeit lässt eine solche Totalverweigerung nicht zu. Das ist ein Zwiespalt, der nur schwer auszuhalten ist. Folgerichtig geht Tommi später dann in Therapie.
Fazit
Es ist der Balanceakt zwischen Verweigerung und Mitmachen, zwischen Integrität und Anpassung, der in diesem Buch beleuchtet wird. Der vom Protagonisten zum Lebenskonzept erhobene Punk geht in eins mit künstlerischer Weltsicht – eine sympathische und produktive Kombination. Das eigene Leben wird zum Störfaktor stilisiert, um gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen und repressive Strukturen zu unterwandern.
Wer sich nicht daran stört, dass bei diesem Buch (was mittlerweile meinem Gefühl nach recht häufig vorkommt) die Bezeichnung „Roman“ sehr großzügig angewandt wird, wird seine Freude daran haben können. Denn es ist ein gutes, ein kluges Buch, interessant geschrieben.
Das Buch:
Schorsch Kamerun: Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens. Berlin 2016 (Ullstein)
256 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-550-08088-3
Der Autor:
Mehr zu und von Schorsch Kamerun findet man auf seiner Seite http://schorschkamerun.de/wordpress/
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