„Der Tod war zu Gast im Funkhaus. Er hatte einen Termin mit Manfred Wilkhahn, einem prominenten Moderator der Volksmusik, der mit Tonbändern erdrosselt aufgefunden wird. Wie auf einem Mixtape zusammengeschnitten, werden nun die folgenden sieben dramatischen Tage erzählt, eine rasante Tour durch die Niederungen von Politik, Medien und Verbrechen. Zum Schluss stürzt die Stadt in einen Moment triebhaften Taumels, eine digitale Revolution, die ihre Kinder nicht frisst, sondern zeugt.“
(Offizieller Verlagstext)
Buchkritik
Was ist es?
Die Exposition des Buches ist ein Todesfall, der – das lässt sich an der sorgsam drapierten Leiche ablesen – nicht natürlichen Ursprungs ist. Ein Mord also. Es tritt ein Kommissar auf den Plan, der in dieser Sache ermitteln soll. Ein Krimi also? Nein.
Uli Wittstocks Debütroman ist genreübergreifend und lässt sich nicht eindeutig zuordnen. Am ehesten lässt sich wohl sagen, was es vermutlich sein soll: eine Satire. Es finden sich in dem Buch viele parodienhafte Anspielungen auf Zustände und Missstände, die den meisten wohl aus eigener Anschauung bekannt sein dürften.
Das Personal
Der Autor lässt ein ganzes Arsenal verschiedenster Figuren auftreten, die allesamt in das Gefüge des Mikrokosmos´ von Bardorf, einem Vorort einer mittelgroßen Stadt ohne Fluss, eingebunden sind. Neben dem (dieses Eindrucks kann man sich im Verlauf des Romans kaum erwehren) zu Recht ermordeten „prominenten Moderator der Volksmusik“ und dem bereits erwähnten ermittelnden Kommissar Schneider (nicht Helge, sondern Frank) gibt es beispielsweise noch (in Auswahl): einen körperfunktionsneurotischen Rapper auf der Suche nach dem idealen Sound, eine unscheinbare und softpornoschreibende Archivarin des Funkhauses, eine Bande von Kriminellen mit eigentümlichem Sinn für Humor und Sprachgebrauch, eine verkrampfte Businessfrau ohne Sinn für Humor, korrupte Lokalpolitiker von unterschiedlichem Rang und mit gemeinsamen fragwürdigen moralischen Grundeinstellungen, eine einigermaßen integere DJane mit privatem Internetsender und treuer Fangemeinde sowie Hang zu Perücken und Verkleidungen, einen finanziell klammen Audio-Produzenten in einem schimmeligen Kellerstudio, dessen aufopferungsvolle Frau mit zu kurzen Fingern zum Klavierspielen, eine aggressive Milbe (Varroa Destructor) mit heiliger Mission zur symbiotischen Infiltration der Bienenpopulation (oder gar darüber hinaus?), einfach gestrickte Fußballspieler in moralischen Zwiespälten – und noch viele mehr.
Die Figurenzeichnung ist überspitzt und bedient beinahe durchgängig alle stereotypen Klischees – worin ich dem Autor aber absichtsvolles schriftstellerisches Tun unterstellen würde. Die Figuren dienen in ihrer Schablonenhaftigkeit der pointierten Darstellung bzw. Repräsentation bestimmter Figurentypen, die ein solch durch und durch dekadentes und marodes Gesellschaftsgefüge, wie es hier vorgeführt wird, hervorbringt. Oder sind es die Figurentypen, die ein solches Gesellschaftsgefüge hervorbringen? Wer könnte es mit Bestimmtheit sagen? Ich nicht.
Referenzen
Ist der Autor Uli Wittstock als Journalist auch vorwiegend für die Hörfunk-Sparte der ARD tätig, so wurde ich bei der Lektüre seines Buches – insbesondere gegen Ende – an bestimmte Filmszenen erinnert. So zum Beispiel erinnerte mich die in kurzer Abfolge wechselnde Fokussierung auf die einzelnen Figuren und deren innerem und äußerem Befinden kurz vor dem zu erwartenden kathartischen Finale an einen meiner absoluten Lieblingsfilme, nämlich „Magnolia“ von Paul Thomas Anderson. Während in diesem Film die Reinigung aber als Froschregen vom Himmel fällt, zeigt das rauschhafte Finale im Buch eher Ähnlichkeiten zur großen allumfassenden Orgie in „Das Parfum“ von Patrick Süßkind – mit dem Unterschied, dass das besinnungslose Treiben nicht durch einen Duft, sondern durch einen Klang ausgelöst wird.
Daneben scheint es noch weitere Bezüge zu geben. So zum Beispiel klingt in dem Motiv des Rappers, der sich medikamentös in einen Schwebezustand zwischen Leben und Tod versetzen lässt und in diesem Zustand in eine Art Parallelwelt hinabsteigt, um den ultimativen Sound zu finden, der Mythos vom antiken Sänger Orpheus an. Und im Minister, der sich am Ende des Romans infolge eines Stiches durch eine infiltrierte Biene selbst in eine riesige menschliche Biene verwandelt, zeigt sich deutlich eine Variante von Kafkas Verwandlung.
Fazit
Uli Wittstock hat ein unterhaltsames Debüt geschrieben, das einige Zusammenhänge klug vorführt, an manchen Stellen einen gewissen Witz hat und in Sachen Audio-Bearbeitung und Rundfunk den professionellen Zugang des Autors zum behandelten Stoff durchscheinen lässt. Der Autor entwirft das Panorama einer kleinen bis mittelgroßen Stadt ohne Fluss, deren kulturelle Felder Sport, Musik und Politik allesamt von Korruption und Kriminalität durchsetzt sind. Das Ganze wird garniert mit einem surrealen respektive phantastischen Einschlag. Er wird seinen Spaß beim Schreiben dieses Buches gehabt haben. Und auch die Lektüre ist kurzweilig.
Es ist aber nicht alles rundum gelungen an diesem Buch. Auffallend ist zum Beispiel, dass entweder überhaupt kein oder nur ein sehr mangelhaftes Lektorat stattgefunden hat. Viele offensichtliche Schreibfehler sprechen eine deutliche Sprache. Und auch inhaltlich und dramaturgisch hätte ein gutes Lektorat sicher an mancher Stelle noch straffen und strukturieren können. Ich glaube aber zu erahnen, was der Autor mit diesem Buch wollte. Er wollte viel, und nicht alles gelang. Jedoch ist es ein originelles und eigenständiges Werk, in einem angenehmen Stil geschrieben, mit einigen schönen Ideen und zutreffenden Beobachtungen. Ich weiß das zu schätzen.
Warum ich als (einziges!) Jury-Mitglied für dieses Buch beim Bloggerpreis „Das Debüt 2016“ votiert habe, erklärt diese Rezension nicht. Einen Beitrag, der dies andeutungsweise ebenfalls nicht erklärt, gibt es hier.
Das Buch:
Uli Wittstock: Weißes Rauschen, oder Die sieben Tage von Bardorf. Halle 2016 (mitteldeutscher verlag).
Der Autor:
Mehr von und zu Uli Wittstock findet man auf seiner Facebook-Seite.
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