„Eine unerträgliche Klaustrophobie der Seele“
Dieses Satzfragment spiegelt einen passenden Eindruck wider, den der – dies vorweg – großartige Roman hinterlässt. Es findet sich auf Seite 947 der deutschen Ausgabe, und so lange dauert es auch, bis der Leser Erklärungen bekommt für quälend offen gebliebene Fragen. Ebenfalls vorausschicken möchte ich, dass ich ein Leser bin, der im Fall eines solchen Ausmaßes seelischer Strapaze, wie Miss Tartt sie zumutet, auf eine (wie auch immer geartete) Auflösung angewiesen bin. Der ‚Distelfink‘ endet nicht einfach so in der Leere, in die alles in diesem Roman hineinzustürzen droht oder die von einem offenen Ende hervorgerufen werden könnte. Er lässt weder die Figuren noch die Leser allein im Ungewissen. Andernfalls stünde ich dem Werk wohl auch mit bitterem Widerwillen gegenüber und könnte kein gutes Haar an ihm lassen. Und da war ich mir auf Seite 946 noch gar nicht sicher.
Der Rahmen: …kurz vor dem Exitus
Wir begegnen dem Icherzähler und Protagonisten Theodore Decker als Mensch ohne Optionen, am Ende der schlimmsten Woche seines Lebens. Für den smarten, jungen Antiquitätenhändler aus New York will das nicht nur ‚einiges heißen‘: er hat mit kaum Mitte Zwanzig ein Leben hinter sich, das ohne große Umwege in die Verelendung führt, seit er als Dreizehnjähriger in den Besitz eines weltberühmten Kunstwerks gelangte. Physisch versorgt ist Theo immer gewesen, doch seelisch ist er ein Krüppel. Zwar hegt er die Hoffnung, in der Ehe mit einer extravaganten, ihm seit der Kindheit vertrauten Frau ein Äquivalent zu Stabilität und vielleicht gar Zufriedenheit zu finden. Doch auch diese Aussicht wird vorläufig pulverisiert, kurz bevor er nach Europa – genauer: Amsterdam – aufbricht, um eines seiner zwei Lebensprobleme zu lösen.
Das weiß der Leser noch nicht, als die Handlung einsetzt. Somit ist auch das Gewicht, mit welchem Tod und Resignation dem jungen Mann zusetzen, niemandem bewusst, der das Buch aufschlägt. Donna Tartt führt uns von der Klammer der Jetztzeit, die sich erst in den letzten hundert Seiten des über tausend Seiten starken Romans wieder schließen wird, hinweg in die Vergangenheit dieses zeitgemäßen Typs eines alles in Frage stellenden Antihelden. Eines Menschen, der der Wucht seines Schicksals keinen Neustart und keine geeigneten Reparaturmaßnahmen entgegenzusetzen hat.
Trauma, Kunst und Illegalität
Theos zwei Lebensprobleme hängen unmittelbar zusammen, beginnen beide am selben Tag mit demselben Ereignis, und das eine – der illegale Besitz jenes Kunstwerks von Weltrang – steht symbolisch für das andere, und eventuell für dessen Verkraftung, wenn schon nicht Überwindung. Denn dieses andere Lebensproblem kann nicht gelöst oder überwunden werden. Es besteht aus einem Trauma. Ein Trauma, das so schwer ist, so belastend und so Schaden anrichtend, dass ein Leben nicht mehr gut werden kann damit:
Bei einer Explosion im Kunstmuseum, die von Kunsträubern gelegt wird, verliert der junge Teenager Theo sein Vertrauen in die Welt und all ihre Scheinsicherheiten sowie seine über alles geliebte Mutter. In derselben Stunde gerät er in den Besitz des weltberühmten niederländischen Gemäldes ‚Der Distelfink’ aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. (Tartts Geschichte ist komplett fiktiv, das Gemälde existiert, es ging jedoch in jüngerer Vergangenheit nicht verloren.) Es ist ziemlich kleinformatig und auf Holz gemalt. Der zwar desorientierte, aber nicht etwa durch Schock oder Panik handlungsunfähige Junge wird kurz nach dem verheerenden Anschlag von einem sterbenden, alten Mann überredet, den ‚Distelfink‘ mitzunehmen. Und das tut Theo. Da er es nicht schafft, das Gemälde zeitnah abzugeben, wächst er mit zunehmendem Alter in die Rolle eines international gesuchten Kunstdiebes hinein, ohne je etwas anderes gewollt zu haben als eine bleibende Verbindung zu seiner Mutter, der das Vogelporträt offenbar sehr viel bedeutet hatte.
Eine verlorene Jugend
In den nun folgenden Episoden seines Lebens lernen wir Theos Alliierte kennen, von denen er immerhin eine ganze Handvoll besitzt: einen Freund aus Kindertagen und dessen Mutter; den verloren gewähnten Vater; einen Jugendfreund (Boris), der mit seiner Unberechenbarkeit Theos Geschicke maßgeblich mitgestalten wird, sowie den Geschäftspartner – ‚Hobie‘ – des im Museum verstorbenen, alten Mannes.
So wohlmeinend all diese Menschen sind (bis auf den leiblichen Vater, der Alkoholiker und Spieler ist und sich an einem auf Theo gemünzten Treuhandfonds bereichern will, wofür er seinen Sohn aus dem vertrauten New York an den Rand der Wüste in Las Vegas verpflanzt) – niemand von ihnen vermag die Abwärtsspirale zu erkennen, geschweige denn zu stoppen, in der der Junge sich befindet. Unfähig, Hilfe anzunehmen oder sich eine alternative Lebensperspektive zu erarbeiten, erleidet Theo Decker auch weiterhin Rückschläge und Verluste, während er über weite Strecken des Romans damit befasst ist, sich mit einer breiten Auswahl an Drogen und Bewusstseinsdämpfern möglichst fühllos zu halten. Der Tod bleibt ein bedrohlicher Schatten in Theos Umfeld, dessen räuberischer Macht der Minderjährige außer stoischer Passivität kaum etwas entgegenzusetzen hat.
Die Seele des Romans: Ein Hort des Friedens
Es mag bei ungeduldigen Lesern (wie mir) in der Mitte des Buches die Frage aufkommen, ob denn bald etwas Entscheidendes passieren wird, und dann springt der Roman um acht Jahre in der Zeit nach vorn und lässt uns Theo als jungen, eleganten Mann sehen, der in Hobies Haus lebt und dessen Antiquitäten verkauft. Als Erwachsener kann Theo seine Probleme und Störungen besser kaschieren. Dennoch läuft sein Leben als Kunsthändler unter ähnlichen Vorzeichen weiter wie das bisherige, und das sind keine guten.
Dem äußeren Geschehen und Treiben der Welt gegenüber verhält Theo sich neutral bis verlogen. Unbeholfen, doch loyal bleibt er denen gegenüber, die ihm Geborgenheit geben, allen voran Hobie.
Hobies Haus ist eine Huldigung an originelle Darstellungen besonderer, zeitloser Orte in der Literatur überhaupt. Wie sich herausstellen wird, ist es die zentrale Zuflucht des kaputten Helden. Sein Rettungsboot. Eine Arche. Wurden wir während Theos Aufenthalt bei seinem Zockervater in Nevada (wo Boris ins Spiel kommt) Zeuge fast aller zeitgenössischen Abgründe, in die ein Jugendlicher stürzen kann, taucht Theo bei seiner Rückkehr nach New York wieder ein in das atmosphärische Nest von Kultur und Überdauerung, das von Hobies Haus geboten wird. Verzückt kann der Leser sich hinab ziehen lassen in den Sog wiederkehrender Beschreibungen dieses Hauses, seiner Zimmer, seiner Werkstatt, seiner eigentlichen Bewohner – einer Unzahl ob ihrer Schönheit konservierter Gegenstände aus vielen Jahrhunderten –, welche die Handvoll Menschen, die sich hier als Gäste oder Eigentümer wirklich aufhalten, friedlich aber bestimmt an den Rand der vielen Gänge zu drängen scheinen. Über all dem liegt hier der dunkel goldene Glanz verfließender Zeit und schreibt dem puren Vorhandensein der Dinge einen Sinn zu. Dabei ist das Haus eigentlich ein Ort wüstester Reproduktionen, Kopien und Ausbesserungen. Selten wurde von einem Handwerker so gepfuscht wie hier, wenn es um die Nachahmung originaler Kunst geht. Wir schmecken, riechen, fühlen die Herstellung perfekter Imitate, während wir Tartts sanfter Stimme der Unruhe zuhören.
Langsam und bedächtig genug schildert sie die umgebenden Eindrücke. Kunst, Schönheit und deren hybride Erzeugung durch Fälschung sind für die Autorin Projektionsflächen erzählerischen Interesses. Dabei entsteht zuweilen eine dezente Dichotomie: Selten scheinen die ästhetischen oder rein kunsthandwerklichen Reflexionen zu den nachhaltig irritierten Empfindungen des – ja immerhin erzählenden – Protagonisten zu passen. Es gelingen der Autorin wunderschöne Passagen, stets dicht und voller Poesie, nie schwelgerisch – stilsicher transportiert durch Rainer Schmidts und Kristian Lutzes Übertragung ins Deutsche.
Keine leichte Kost
‚Der Distelfink’ ist kein Schmöker. Eine geradezu butterweiche Leichtigkeit, mit der er sich lesen lässt, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass wir mit jemandem leiden müssen, der unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Über die Hälfte des Romanumfangs bleibt Theo jugendlich. Von seinem engsten Freund Boris wird er ‚Potter’ genannt, äußerlich wegen einer Brille, die auch der (kurzsichtige) berühmteste Zauberlehrling der Welt trägt. Bei Kennern der Fantasyserie werden Erinnerungen wach an jene unglückselige Jungengestalt, die am Zwiespalt zwischen weißer und dunkler Magie zu zerbrechen droht. Theos Lebensgeschichte aber ist zum Leidwesen aller Anteilnehmenden ungleich realer als Harry Potters ebenfalls verlustreiche Biographie.
Es wird erst nach über hundert Seiten klar, dass sich der „Distelfink“ nicht als Jugendbuch wird lesen lassen. Annähernd schockartige, zumindest ernüchternde Formulierungen, an denen die Dichterin zu Beginn des Buchs noch spart, zeigen sich wie Dornen an einer Rose: die Lektüre wird für zwei, drei eingestreute Worte schmerzhaft, aus dem Alltag der hilflosen Hauptfigur lugen Makel unerhört drastisch hervor; und es wird klar, dass dieses Buch von lebenserfahrenen Erwachsenen gelesen werden sollte. Nahender Wahnsinn, selbstzerstörerischer Drogenkonsum, Skrupellosigkeiten aller Couleur mögen auch Zutaten populärer Fantasy-Bestseller sein. Doch bei solchen kommt das Happy End ja sowieso. Und wenn nicht, wäre es nicht schlimm. Es wäre nie so unangenehm nah an der eigenen Wahrnehmung der westlichen Zivilisation wie die Geschichte Theo Deckers, die – obgleich fiktiv – doch Spuren eigener Lebenswirklichkeiten enthält, bekannt von eigenen Erfahrungen oder aus den täglichen Nachrichten (für die es im ‚Daily Prophet’ – einer Zaubererzeitung in den Potter-Romanen – nun mal kein Pendant gibt).
Lustiger- oder auch listigerweise – keine Ahnung, ob das absichtlich geschieht – wird eben jenem Boris, der den Spitznamen ‚Potter’ ins Rennen führt, auch noch ein zentrales Zitat aus ‚Lord of the Rings’ in den Mund gelegt, wenn er sagt: „Auch die Weisen und Guten sehen nicht immer das Ende aller Handlungen.“
Dénouement: Knoten platzen, unverkitscht
Jeder Leser mag selbst entscheiden, ob die Deus-ex-machina–Lösung, die Donna Tartt wählt, ihr Buch nun doch zum Schmöker degradiert. Die Autorin fürchtet offenbar weder den möglichen Vorwurf, klassisch oder konservativ zu sein (da sie keinerlei modernistischen Versuche unternimmt, ihren Protagonisten im Stich zu lassen), noch denjenigen, sentimental oder gar trivial das Ende des Romans anzusteuern, und das braucht sie auch nicht. Nach Hunderten bleischwerer Seiten entlässt sie zumindest mich federleicht aus ihrem Werk, bevor dieses endet. (Und das habe ich dann auch verdient, meine ich.) Mit einiger Deutlichkeit jedenfalls hebt sich das Ende vom Romanverlauf ab.
Selbst nachdem der Kreis ihrer Rahmenhandlung sich geschlossen und sie die Erlösung des Protagonisten lanciert hat, bleibt ihr der künstlerisch gelungene, wenngleich künstlich angeklebte Abschluss, in dem sie dem unpeinlich berührten Publikum ihre Sicht auf die großen Mysterien darlegen kann. Er bleibt ihr als Adelung eines sehr bemerkenswerten Romans. Ganz am Ende lässt sie die Zügel los und redet über Schicksal, Gott, Tod, Gut und Böse und die Untiefen der Liebe – und selbstverständlich über die unaufgelösten Spannungen der Geschichte. Sie lässt uns Weisheit erahnen und vielleicht sogar die Scheu vor der eigenen inneren Stimme des gesunden Menschenverstandes vergessen. Es wirkt so leicht und logisch, als könnte der Menschenverstand stets an die Mysterien rühren.
Es hätte auch alles ganz anders kommen können. Erst nach 700 Seiten beginnt ein Spannungsbogen, der geeignet sein könnte, die Knoten in Theo Deckers Leben zum Platzen zu bringen, nach 946 Seiten endlich ist der unglückliche Held weit genug von der Eigendynamik der Handlung getrieben worden, um allem ein Ende setzen zu können – …bereit zum Exitus. Doch erst nach einem alles drehenden Traum wird wiederum 15 Seiten später die Katharsis eingeläutet. Zusammen mit der unerwartet von außen kommenden Lösung bringen die letzten Kapitel des Buchs dem Leser eine Erleichterung, wie sie sich wirklich nicht hat vorausahnen lassen können. All das Erzählgut auf Hunderten von Seiten war nötig, denke ich, um aller harmonischen Fabulierkunst zum Trotz Wirren anzuzetteln, die letztlich ohne (unnützes) Pathos, aber eben auch ohne Tragik enden dürfen.
Fazit: Ein erhebendes belletristisches Manifest gegen die Gleichgültigkeit
Ich danke der Autorin, dass sie kein offenes Ende gewählt hat. Ein erwartbar tragisches Ende hätte ich in Kauf nehmen müssen. Zu dunkel war der Weg Theo Deckers. Und er endet auch nicht ohne den Verweis auf eine mögliche sinnlose Heftigkeit – oder umgekehrt: grausame Nutzlosigkeit – menschlichen Lebens. Leicht pathetisch wirkt höchstens noch der allerletzte Hinweis auf den nötigen Mut, das Leben trotz aller Grässlichkeiten und Widerstände dennoch zu leben.
Aber wenigstens bezieht dieses Buch Stellung. Es drückt sich nicht um Standpunkte zu den letzten Dingen, es hinterlässt keinesfalls den Eindruck künstlerischer Trägheit oder humaner Resignation angesichts des Elends unserer Welt. Und auch dafür danke ich Miss Tartt von Herzen!
(Jeder ‚Leser‘ ist eine Leserin, jede Leserin ein ‚Leser‘! RR)
Das Buch:
Donna Tartt: Der Distelfink. Roman (Goldmann 2015)
1020 Seiten, 24,99 €, ISBN: 978-3-442-31239-9
Die Autorin:
Mehr zu und von der Autorin Donna Tartt und dem besprochenen Buch gibt es auf der Random House Verlagsseite.
Views: 609
Schreibe einen Kommentar