Nacht für Nacht streift eine junge Frau durch die Stadt. Sie sucht nach etwas, doch sie weiß nicht, wonach. Vielleicht, denkt sie, kann sie es hinter den letzten erleuchteten Fenstern finden. Sie klingelt an den Türen. Und begegnet Menschen im Moment ihrer höchsten Einsamkeit – Menschen, die nachts erst richtig zu leben beginnen, wenn draußen alles still und dunkel ist.
„Die Nacht“, sagt er, „mag ich deshalb, weil man in ihr viel klarer sieht als am Tag. Was ja der Tatsache, dass es tagsüber hell ist, eigentlich widerspricht.“ Ich schweige. Wir gucken zum Fenster hinaus und sehen uns selbst. In der Spiegelung treffen sich unsere Blicke. Dann sagt er: „Und jetzt möchte ich, wenn du erlaubst, gerne ins Bett gehen.“
(Offizieller Klappentext/Verlagstext)
Buchkritik
Dieses Buch beruht auf einer schönen und guten Idee. Die besondere Stimmung der Nacht, die einzelnen erleuchteten Fenster in den Häusern einer Großstadt (in diesem Fall: München), das vermeintlich geheimnisvolle Treiben der Bewohner in den dahinterliegenden Wohnungen – all das ist dazu angetan, poetische und kraftvolle Bilder mit emotionaler Tiefe hervorzurufen. Die Nacht, als ein grundsätzlich vom Tag verschiedener Erfahrungsraum – das wird auch explizit im Buch angesprochen. Und auch anderes Zutreffendes und nicht Dummes wird gesagt. Es ist einiges Richtiges in diesem Debütwerk der jungen Autorin zu finden.
„Nachts spürt man die Fahrt auf dem Weltball wie auf einem Boot, das sehr langsam durch den dunklen Tunnel in einen Freizeitpark gleitet. (…) Wenn die Sonne dann wieder aufgeht, wenn das Boot also aus dem Tunnel herausfährt und alles wieder laut und schreiend und gemeinschaftlich und vermischt ist und man nicht weiß, wo man zuerst hingucken soll – da die Achterbahn, da die Kinder mit den Luftballons und die quäkenden Babys und das ganze aufgekratzte Irrenland, kann man nichts mehr erkennen von dem, was einem da im Tunnel so klar erschien.“
Man sieht, die Autorin kann schreiben. Es gelingt ihr auch, die nächtliche Atmosphäre zu erzeugen, in der das aufgekratzte Irrenland weitestgehend Pause hat. Und man findet das eine oder andere stimmige Bild, wofür die Nacht selbstverständlich ein reichhaltiges und dankbares semantisches Feld liefert. Es ist eine angenehme Lektüre. Ich habe das Buch abends vor dem Einschlafen gelesen, jeden Abend ein oder zwei Episoden. Die Kürze der einzelnen Erzählungen bieten sich dafür trefflich an. Alles in allem ist es eine schöne Unterhaltung – und doch gibt es einige Punkte, die störend bzw. unbefriedigend sind.
Etwas fehlt
Den Begegnungen fehlt, angesichts realistischer Figurenzeichnung, die Glaubhaftigkeit. Ich selbst bin ebenfalls ein Nachtmensch, wenn man das so nennen möchte. Käme eine junge Forscherin des Nachts auf der Straße vor unserem Haus vorbei, sie könnte in meinem Fenster oftmals Licht brennen sehen. Würde sie dann klingeln, würde ich sie vermutlich auch hereinlassen. Allerdings hätten vorher schon die Hunde angeschlagen, und vielleicht wäre der jungen Forscherin dann bereits die Lust vergangen, einzutreten. Doch gesetzt den Fall, sie käme herein – eine solch einseitige Unterhaltung, wie sie in den Erzählungen des Buches stattfinden, gäbe es bei mir nicht. Es mag zwar ein bisschen interessant sein, danach zu fragen, warum ich zu nachtschlafender Zeit noch am Schreibtisch sitze, lese, schreibe oder mich mit Musik beschäftige; aber ich würde mich nicht zu einem Monologisieren verleiten lassen, wie es offenbar im Buch die Regel ist. Warum diese junge Frau nachts herumläuft und bei fremden Menschen klingelt und dann auch noch in deren Wohnungen geht, ist doch wohl interessanter als mein nächtliches Arbeiten. Ich würde sie also mindestens genauso viel fragen, wie sie mich. Warum tut das keine der Figuren in dem Buch? Oder wird es bloß nicht erzählt? Die Besuchten scheinen sich sehr schnell zufriedenzugeben mit oberflächlichen Erklärungen seitens der Ich-Erzählerin. Und das wirkt meiner Meinung nach unglaubwürdig.
Die Ich-Erzählerin, was ist mit ihr?
Sie gibt sich bei ihren nächtlichen Besuchen als Forscherin aus, die herausfinden möchte, was die Wachenden veranlasst zu wachen. Mehrfach wird jedoch deutlich gemacht, dass dies nicht das eigentliche Motiv ist. Sie hat Angst; Angst vor der Einsamkeit und Dunkelheit, ohne die Möglichkeit eines eigenen Rückzugsorts. Ist sie obdachlos? Sie sagt nein. Was sonst noch? Nichts weiter. Man rätselt selbstverständlich ein bisschen darüber, was mit der jungen Frau wohl los sein mag. Und das ist gewollt. Kryptik.
Der Ich-Erzählerin fehlt das Ich. Sie spiegelt sich in Brillengläsern und Fensterscheiben, als wäre sie reine Reflexion. Sonst erfährt man nicht allzu viel von ihr. Ich bin unentschieden, ob ich das als gewollten und gelungenen Kunstgriff betrachten darf oder als nicht ausgereifte literarische Ausarbeitung betrachten muss. Bei mir führt die zu große Informationslücke hinsichtlich der Erzählerin jedenfalls dazu, dass ich schnell überhaupt nicht mehr darüber nachdenke, was mit ihr sein könnte, weil ich es sowieso nicht herausfinden werde. Es ist dermaßen viel Kryptik bzw. dermaßen wenig Information zur Ich-Erzählerin, dass sie mir schnell ganz egal geworden ist. Sie scheint irgendein psychisches Problem zu haben; naja, haben wir das nicht alle? Weil hier der Wille zum Geheimnisvollen derart offensichtlich ist, gehe ich als Leser direkt darüber hinweg. Da möchte jemand bei mir eine bestimmte Wirkung erzeugen. Das mache ich nicht mit. Das ist bei mir so – bei anderen mag es anders sein.
Wie ist es bei den anderen?
Bleibt die Fokussierung auf die nächtlich Besuchten. 25 sind es. Von zehn nachts Beklingelten machen drei auf, wie man erfährt. Und was sind das für Leute? Es sind sehr verschiedene Menschen, Männer wie Frauen, jung wie alt. Man lernt sie in 25 Erzählminiaturen kennen. Die Konstruktion der einzelnen Episoden ist immer gleich. Die Erzählerin sieht von der nächtlichen Straße aus ein Licht brennen hinter einem der Fenster eines Hauses. (Übrigens, sofern ich mich recht erinnere, niemals hinter zweien in einem Haus. Es gibt also pro Haus immer bestenfalls nur einen Nachtmenschen.) Sie klingelt, ihr wird aufgemacht. Dann geht sie durch den Hausflur bis zur Wohnungstür, wo ihr die Bewohnerin oder der Bewohner öffnet. Ihr Gegenüber wird äußerlich skizziert. Dann darf sie eintreten und beschreibt für uns kurz die Wohnung. Dieser Ablauf wiederholt sich ständig.
Sarah vom Debüt spricht in ihrer Rezension davon, dass sich in dieser Wiederholung des Aufbaus sozusagen die schlafwandlerische Monotonie der Nacht widerspiegele und somit also Form und Inhalt im Buch korrespondierten. Eine solche Einschätzung setzt allerdings voraus, dass man davon ausgeht, Somnambulismus oder aber die Nacht als solche wären monoton. Wenn man diese Meinung nicht teilt – und es gibt keinen Grund, dies selbstverständlich zu tun – bleibt lediglich die Feststellung einer Monotonie im Aufbau. Wohlwollend betrachtet, kann man diese Konstruktion als sich wiederholende Versuchsanordnung betrachten, was zum Konzept einer Feldforschung passt. Auch hier bin ich allerdings unentschieden, wie ich das zu beurteilen habe. Übrigens ähnelt sich auch die Beschreibung der Wohnungen meinem Empfinden nach häufig. Vielleicht drückt sich darin die Realität aus, weil sich die meisten Wohnungen tatsächlich ähneln mögen hinsichtlich des Schnitts und der Einrichtung. Ich bin und bleibe unentschieden.
Wie bereits erwähnt, überraschend schnell und vorbehaltlos breiten die Besuchten ihr Seelenleben vor der vermeintlichen jungen Forscherin aus, so dass man einen kurzen Einblick erhält in die Geschichten der Figuren. Ihr Verhältnis zur Nacht und der Grund ihres Wachens bzw. ihrer Schlaflosigkeit werden erörtert. Es wird ein recht vielfältiger Querschnitt möglicher Motive gegeben.
Oft geht es um Trennungen, Ängste vor dem Verlassen-werden und Alleine-sein, Vergangenheitsbewältigung und gedankliche Zukunftsvorbereitung. Und die Nacht erscheint als ein Zwischen- und Übergangsraum, in dem sich Vergangenheit und Zukunft, Wachen und Schlafen, Wirklichkeit und Vorstellung treffen. Das liest sich gut runter, die Figuren wirken überwiegend realistisch, und auch manches gelungene Bild wird erzeugt. Aber hundertprozentig befriedigend ist es nicht. Und weil eine Rezension nicht in solcher Unentschiedenheit stehen bleiben darf, kommt nun das
Fazit
Mir gefällt der thematische Ansatz und mir gefällt das Unaufgeregte, das der Darstellung der angetroffenen Menschen und deren Berichte über sich selbst anhaftet. Mir gefällt auch die Sprache der Autorin. Und doch, gerade weil die Nacht als ein anderer Erfahrungsraum so viel poetisches Potential bietet, fehlt mir etwas.
Die Form einzelner Episoden – zumal wenn sich deren Aufbau wiederholt – macht es einfach, ein Buch zu schreiben. Da es sich um das Debütwerk der Autorin handelt, ist auch gar nichts daran auszusetzen, wenn man sich auf diese Weise an die große Form herantastet. Was ich aber vermisst habe, ist etwas, das über das Episodenhafte hinausgeht und ein übergeordnetes, verbundenes Ganzes erzeugt. Die Ich-Erzählerin ist zu wenig Ich, um das zu leisten. Aus den erlebten Episoden folgt nichts weiter. Alle bleiben solistisch und bewirken darüber hinaus keine sichtbare Entwicklung in der Ich-Erzählerin, führen zu keiner weiteren Erkenntnis. Vielleicht ist es das, was gezeigt werden sollte: Ein jeder Mensch für sich allein, mit seinen Ängsten; und in unseren Ängsten und Sorgen und unserer Einsamkeit sind wir uns alle gleich. Wenn dem so ist, ist es nicht deutlich genug herausgearbeitet. In welche Richtung die vagen Andeutungen in Hinblick auf die Erzählerin weisen, bleibt ebenfalls unklar. Kurz: was ich vermisst habe, ist der Roman, der die Nacht als Ganzes und als eine eigene Welt des Schwebezustands zwischen Wachen und Schlafen auferstehen lässt. Das sehr gelungene und stimmungsvolle Buchcover weckt Erwartungen, die (zumindest bei mir) nicht vollauf erfüllt werden.
Man könnte nun den Eindruck gewonnen haben, mir habe das Buch nicht gefallen. Aber das stimmt nicht. Es ist trotz der geäußerten Kritikpunkte ein schönes Buch. Ich hätte es mir lediglich noch schöner gewünscht.
Das Buch
Mercedes Lauenstein: Nachts. Berlin 2015 (Aufbau Verlag).
191 Seiten, 18,95 €, ISBN: 978-3-351-03614-0
Die Autorin
Mehr von und über Mercedes Lauenstein findet man auf ihrer Website: http://www.mercedeslauenstein.de/
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