USA 1881/1882. Fast zeitgleich schiffen sich zwei Männer für die Überfahrt nach Amerika ein. Oscar Wilde, in Europa bereits berühmt und berüchtigt, tritt eine umfangreiche Vortragsreise über Ästhetik an und wird in den amerikanischen Großstädten begeistert empfangen. Auf Knut Hamsun dagegen wartet niemand. Statt mit Literatur verdDie heiklen Passagen_kleinient er sich den Lebensunterhalt mühsam mit Gelegenheitsarbeiten. Für beide beginnt die schriftstellerische Karriere erst nach der Rückkehr in die Heimat. Wildes „Dorian Gray“ und Hamsuns „Hunger“ werden in Zeitungen veröffentlicht. Bald gehört Wilde zur europäischen Avantgarde und Hamsun erhält gar den Literaturnobelpreis. Doch Ruhm ist bekanntlich vergänglich. Beide Schriftsteller sterben geächtet und verbittert.

Der historische Roman über Aufstieg und Fall der beiden außergewöhnlichen Künstler ist angereichert mit Ausschnitten aus Briefen, Tagebucheinträgen und Zeitungsberichten. Wissenschaftliche wie kulturelle Exkurse machen ihn zu einem spannenden und fundierten Zeitzeugnis.

(Offizieller Verlagstext/Klappentext)


Buchkritik

Ein Buch über den Iren Oscar Wilde (1854-1900) und den Norweger Knut Pedersen (1859-1952), besser bekannt unter seinem späteren Schriftstellernamen Knut Hamsun. Zwei Figuren der Literaturgeschichte, über die nicht wenig bekannt ist und geschrieben wurde. Der Autor Matthias Engels setzt diese beiden sehr verschiedenen Männer nun in einer Art Parallelportrait in Beziehung zueinander, ohne dass die beiden leibhaftig zueinander in Beziehung treten würden. Und obwohl Vieles über beide bekannt ist, sind die Gemeinsamkeiten bzw. Parallelen, die durch den Aufbau des Buches deutlich werden, überraschend und dürften auch manchem Literaturwissenschaftler bisher noch nicht so klar vor Augen gestanden haben.

Der Aufbau

Matthias Engels erzählt also von den Amerikareisen der beiden sehr unterschiedlichen Schriftsteller Oscar Wilde und Knut Hamsun sowie von deren weiteren Werdegängen nach ihrer jeweiligen Rückkehr nach Europa bis hin zum bitteren Ende beider Existenzen. In einer feinen, präzisen und eleganten Sprache, aber niemals manieriert, werden die Geschehnisse episodenhaft dargestellt. Engels orientiert sich dabei an vielen Originalquellen (Briefe, Zeitungsartikel, Tagebucheinträge etc.) und Erkenntnissen der einschlägigen Sekundärliteratur, um all dies mittels eigener Hinzufügungen zu einem Ganzen zu verweben. Die intensive und sorgfältige Recherchearbeit, die dem Schreiben des Romans vorangegangen ist bzw. es begleitet hat, sind dem Buch anzumerken. Die originalen Briefe und Zeitungsartikel werden dabei in das selbst Geschriebene passend eingebunden.

Vielleicht mangels hinreichendem Quellenmaterial gibt es einige größere zeitliche Sprünge von mitunter mehreren Jahren in den biographischen Darstellungen. Diese Lücken wären zu groß, um sie mit eigener Dichtung zu füllen – will man dem Ansatz des „behutsamen Erfindens“ gerecht werden, den Matthias Engels im Nachwort anführt. Weil durch diese Auslassungen bestimmter Zeitabschnitte in den Leben der beiden Protagonisten aber die Parallelitäten zwischen ihnen klarer herausgestellt und in den Fokus gerückt werden, ist hierin wohl der eigentliche Grund für diese Sprünge zu suchen. Insofern sind diese zeitlichen Lücken sowohl handwerklich als auch strukturell konsequent und nachvollziehbar.

Ein Roman als Zeitdokument

Andererseits bedingt dies die Episodenhaftigkeit des Inhalts, weshalb hier kein Handlungsbogen im klassischen Sinne, der sich stringent vom Anfang zum Ende mitverfolgen lässt, präsentiert werden kann. Aber doch entsteht im Kopf der Leserinnen und Leser durch die Wirkung der Teilstücke ein in sich konsistentes Bild. Und dieses Bild vermittelt zum einen eine Vorstellung von den Persönlichkeiten der beiden behandelten Schriftsteller und ist zum anderen zugleich Stimmungsbild bzw. Zeitdokument des auslaufenden 19. Jahrhunderts. Schon alleine deswegen war es mir ein Vergnügen, diesen Roman zu lesen, da ich ohnehin ein gewisses Faible für das Fin de Siècle bzw. die Jahrhundertwende habe und entsprechende Figuren jener Zeit an verschiedenen Stellen im Buch auftauchen. Insbesondere der bei seiner Überfahrt nach Amerika bereits – vor allem durch sein Dandytum – populäre Oscar Wilde verkehrt sowohl jenseits als auch diesseits des Atlantiks mit berühmten Persönlichkeiten der Zeit- und Kulturgeschichte. Zola, Gide, Toulouse-Lautrec, Mallarmé, Whitman und einige mehr finden Erwähnung oder treten gar in Erscheinung.

Das angesprochene Stimmungsbild des umfassten Zeitraums wird durch Ausflüge und explizite Exkurse in die Kulturgeschichte noch zusätzlich untermauert. So finden z. B. die Verhandlungsprotokolle über den Null-Meridian im Oktober 1884 in Washington Eingang in das Buch, man erfährt etwas über die Erfindung der Glühbirne durch Edison, und der Handleser Cheiro (William John Warner) nimmt in Anwendung seiner Kunst während einer Abendgesellschaft den persönlichen Niedergang Oscar Wildes vorweg. Übrigens hat jener Cheiro tatsächlich Oscar Wildes Hand gelesen; ebenso wie die von u. a. Mark Twain und Mata Hari… Als Leser erhält man dabei einen kleinen Einblick in die Gesetzmäßigkeiten der Chirologie/Chiromantie (Handlesekunst). Solche Hinwendung zu okkulten Praktiken ist ein typisches kulturelles Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Wilde und Hamsun im Vergleich

Hamsun tritt, im Gegensatz zu Wilde, die Fahrt nach Amerika als Unbekannter und beinahe Mittelloser an. Für ihn interessiert sich dort niemand so richtig. Während Wilde die großen Städte bereist und Vorträge zur Ästhetik vor beinahe durchweg ausverkauftem Haus hält, möchte Hamsun die norwegische Literatur in den Vereinigten Staaten bekannter machen, muss sich aber durch verschiedene Aushilfsjobs finanzieren, die mit seinem eigentlichen Vorhaben inhaltlich meist nichts zu tun haben. Und wenn er einmal die Gelegenheit zu einem Vortrag erhält, finden sich nur vier Zuhörer ein – die ihm aber nicht zuhören…

Im Verlauf des Buches wird erzählt, wie beide nach ihrer Rückkehr nach Europa ihren Durchbruch als Schriftsteller erleben, aber auch, wie es schließlich mit beider Karrieren steil abwärts geht. Beide haben sich schließlich vor Gericht zu verantworten und werden verurteilt. Worum es dabei im Einzelnen geht, soll hier nicht gesagt werden, um etwaigen Leserinnen und Lesern, die mit den entsprechenden Biographien nicht vertraut sind und eventuell das Buch noch lesen möchten, nicht schon zuviel vorwegzunehmen.

Wenngleich proportional mehr Text Wilde gewidmet wird, ist es mein subjektiver Eindruck, dass Matthias Engels in seiner Charakterzeichnung dem Autor Hamsun etwas näher gekommen ist als dem irischen Dandy. Das mag tatsächlich so sein; oder aber es ist dem geschuldet, was ich selbst bei der Lektüre in den Text hineingelegt habe, weil Hamsuns Charakter mir persönlich vertrauter vorkommt als der Wildes, und ich deswegen dort eine größere Tiefe in der Darstellung verspürt habe. Wer könnte hier einwandfrei entscheiden? Bestenfalls könnte vielleicht der Autor selbst Licht ins Dunkel bringen. Aber hier rührt man an Betriebsgeheimnisse, die mit gutem Recht nicht preisgegeben werden müssen.

Nebenbei bemerkt

Eine auffallende Besonderheit des Buches sind die Orts- und Wetterbestimmungen zu Anfang jedes neuen Kapitels in Anlehnung an Schiffslogbucheinträge. Das ist eine schöne Idee und trägt zum Aufbau der Atmosphäre bei. Dieses Mittel hat mir auch schon in diversen empfehlenswerten Filmen gefallen, allen voran in einem der großartigsten Filme, die ich kenne: „Magnolia“. Hier wird zwischendurch immer wieder die Niederschlagswahrscheinlichkeit angegeben, bis es dann am Ende zur reinigenden Sturzflut kommt (in welcher sonderbaren Form, sei hier nicht verraten – man schaue sich den Film an, falls man ihn noch nicht kennt). Einen ganz so dramatischen Effekt übernehmen die Angaben in dem hier vorgestellten Roman nicht; aber dennoch wird durch sie eine gewisse Plastizität hergestellt, die die Vermengung realer Fakten und Dokumente mit sorgsam entwickelter Fiktion unterstützt. Meine spontane Assoziation mit dem Medium Film kommt hier sicher nicht von ungefähr: Engels gelingt es, durch treffende Sprache und pointierte Detailbeschreibung eine gut umrissene und lebendig wirkende Szenerie zu entwerfen, die sich der Visualisierung förmlich anzubieten scheint. Auch eine Vertonung als Hörbuch könnte schön werden – wenn auch eine anspruchsvolle Herausforderung.

Fazit

Alles in allem ist es ein sehr schönes Buch. Ein gelungener Inhalt in einem angemessenen Äußeren. Denn auch die Optik sei abschließend noch lobend erwähnt. Die Covergestaltung ist sehr ansprechend, das Buch liegt durch sein Format angenehm in der Hand, der Text ist sauber gesetzt, vereinzelte Jugendstil-Ornamente unterstützen dezent die Wertigkeit des Inhalts und ein eingearbeitetes Lesebändchen rundet die komfortable Lektüre ab. Der Stories & Friends Verlag und alle übrigen Beteiligten haben ihre Sache gut gemacht.

Aus dem Inneren zwischen zwei geschmackvoll bedruckten Hardcoverdeckeln und „pflaumenfarbenem Vorsatz“ entsteht vor dem geistigen Auge der Leserschaft das Bild der westlichen Gesellschaft zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und darüber hinaus. Matthias Engels ist anhand des konkreten Beispiels zweier ungleicher wundersamer Herren ein überzeugendes und unterhaltsames literarisches Parallelportrait des Künstlers als junger, nicht mehr ganz so junger und – im Falle Hamsuns – steinalter Mann gelungen. Ein Buch für Literaturbegeisterte und Bibliophile.


Das Buch

Matthias Engels: Die heiklen Passagen der wundersamen Herren Wilde & Hamsun. Lehrensteinsfeld 2015 (Stories & Friends Verlag, Edition Pure).

448 Seiten, 19,90 €, ISBN: 978-3-942181-84-6


Der Autor

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