Welches war der verrückteste Moment in der Literaturgeschichte seit 1945? Warum verliebte sich ein junger deutscher Autor in Susan Sontag? Wie veränderten die Schüsse der sechziger Jahre die Sprache? Wie spielte Rudi Dutschke Fußball? Warum klagte ein Konzern wie Siemens gegen eine Satire? Wie wurde Literatur durch die Berliner Mauer geschmuggelt? Seit fast fünf Jahrzehnten ist Friedrich Christian Delius Akteur und Beobachter des deutschen Geisteslebens. Schon mit einundzwanzig las er vor der Gruppe 47, wurde wenige Jahre später Lektor bei Wagenbach, dann bei Rotbuch. Er erlebte Sternstunden und Tiefpunkte der Linken sowie ihre Zerrissenheit angesichts des beginnenden RAF-Terrors. Mit seinen Romanen wurde er zum poetischen Chronisten deutscher Zustände – wobei er die Kunst stets gegen die Politik verteidigte. In seinem Erinnerungsband liefert Delius bestechende Deutungen der tiefen politischen Spaltungen von den Sechzigern bis zur Wendezeit, zeichnet Porträts von Weggefährten und Autoren wie Wolf Biermann, Heiner Müller oder Günter Kunert, Nicolas Born, Thomas Brasch oder Herta Müller und spricht über das Glück der Literatur. Ein ebenso persönliches wie eindrucksvolles Zeugnis einer Epoche.
(Offizieller Verlagstext)
Buchkritik
Ich schätze Friedrich Christian Delius Werk in all seinen Facetten als eine spielerische und zugleich ernste Auseinandersetzung mit der deutschen (sowie internationalen) Geschichte & Gesellschaft und die stets hinterfragende, nicht zur Ruhe kommende Wachsamkeit und Aufgewecktheit darin. Als Gegner der Verklärung, als Dialektiker der Aufklärung und als Revolutionär gegen die Einheitlichkeit der Darstellung entwickelt er in seinen Büchern eine eigene, undogmatische Position, die der Vernunft und dem Individuum verpflichtet ist.
Ich finde diese Bücher nicht allesamt großartig, ich stimme ihren Schlagrichtungen nicht immer zu, aber ich finde sie alle lesenswert, und die Fülle der darin vorgenommenen Problematisierungen und Aufdeckungen ist erstaunlich. Delius ist eben nicht nur ein Chronist, er ist ein unermüdlicher Mitdenker, Anecker, ein freies Radikal in der deutschen Bücherlandschaft und das, ohne bloß polemisch, schwierig oder verschroben zu sein, allein durch die Klarheit und Eigenwilligkeit seiner Themen.
Zeitgeist wird aufgerufen und weht dich an
„Als die Bücher noch geholfen haben“ ist in drei Abschnitte unterteilt. In ihnen erzählt Delius von seinen Anfängen als Schriftsteller, von seiner Tätigkeit als Lektor und Herausgeber und zuletzt von den beiden Prozessen, die gegen ihn angestrengt wurden.
Das erste Kapitel ist eng verknüpft mit der Gruppe 47 und den literarischen Debatten der späten 60er Jahre. Das mag jetzt erstmal abschreckend und öde klingen, aber Delius gelingt eine Darstellung, die den Leser ins Geschehen zieht – gerade so, als würde er das Ganze durch Delius Augen erleben; gerade so, als wären diese Debatten auch heute noch eine brodelnde Sache. Was sie eigentlich auch sind.
Denn dieses Buch spricht von nahen und gleichsam fernen Zeiten, in denen eben „die Bücher noch geholfen haben“. In denen Publikationen wie das Kursbuch und die politische Literatur Hochkonjunktur hatten und man als Autor noch das Gefühl hatte, man baue mit seinem Schreiben Weichen für die gesellschaftlichen Prozesse. Diese Atmosphäre ist es, die den beiden ersten Abschnitten eine Faszination und eine Wucht verleiht.
Die eigenen Mythen in unsicheren Zeiten. Und der Zweifel, der Zweifel
Im zweiten Abschnitt geht es um Delius´ Tätigkeit bei Wagenbach und später die Abspaltung einiger Lektor*innen und die Gründung von Rotbuch. Diese Geschichten sind wiederum stark mit dem Terror der RAF und den linken Gesinnungs- und Richtungskämpfen der 70er Jahre verknüpft und präsentieren einige anschauliche Beispiele des damaligen Zeitgeistes.
In beiden Abschnitten räumt Delius gewohnt gekonnt mit allerlei Vorurteilen (und Nachurteilen) und liebgewonnenen Glattstreichungen auf. Auch einige Zuspitzungen aus dem großartig polemisch-kritischen Sammelband „Warum ich schon immer Recht hatte und andere Irrtümer“ wiederholen sich hier (und nachdem man vor kurzem „50 Jahre 68er Bewegung“ feierte, sei dieses Zitat hier angebracht):
Keine politische Bewegung ist so auf ihre eigenen Mythen und Klischees hereingefallen wie die 68er. Die meisten dieser Klischees sind sogar nicht einmal falsch. Trotzdem sage ich: Alles war anders, nämlich viel widersprüchlicher, mehrdeutiger, spielerischer.
Falls also zu 68 noch etwas Erhellendes zu sagen ist, dann wäre es vielleicht dies: von der Suche zu sprechen, der Suche auch nach der eigenen Nützlichkeit und dem Gebrauchswert eigenen Tuns, von der Ambivalenz und der Mehrschichtigkeit, die das hektische Leben wie das übereifrige Lernen bestimmten. […] Die 68er Bewegungen, ich bestehe auf dem Plural, sind in sich sehr widersprüchlich gewesen. […] Das sollten heutige Forscher, Betrachter, 68er Hasser und Nostalgiker beachten: Wer immer sich Details, Bilder, Sätze, Thesen aus den Strömungen dieser großen Zirkulation herausfischt und die Gegenbilder, -sätze, -thesen weglässt, wandelt auf dem bequemen Pfad der Legendenbildung.
Wer Delius liest, läuft nicht Gefahr, auf diesem Pfad zu wandeln. Denn auch wenn das Geschilderte in seinen Darstellungen sehr klar hervortritt, werden immer wieder Einschränkungen, Zweifel, Ambivalenzen ins Feld geführt. Seine Anmerkungen führen zu eben jenem Ergebnis, das auch am Ende von Erich Frieds (der ja in derselben Zeit wirkte und als Ikone dieser politischen Epoche der Literatur gelten kann) „Überlegungen“ steht: „Zum Tode der Gewissheit/ aus dem die Hoffnung entsteht/ zum Zweifel/ den keiner mir abnimmt/ der ihn nicht annimmt.“
Prozess und Fazit
Im letzten Abschnitt geht es, wie oben bereits erwähnt, um die Prozesse, die gegen Delius wegen seines Buches „Unsere Siemens-Welt“ (gegen das die Siemens AG klagte) und eines Gedichtes über Helmut Horten angestrengt wurden. Mit fröhlich-bissiger Ironie rollt Delius diese Fälle auf, berichtet detailliert vom Hergang und den Facetten, der Lächerlichkeit und der Existenzangst. Dokumente und Texte aus der Zeit (zum Beispiel eine Verteidigungsrede von Delius vor Gericht) werden ebenfalls eingebunden.
Es ist dies der einzige Abschnitt, in dem mitunter etwas Langeweile aufkommen kann, allerdings ist er auch teilweise sehr unterhaltsam, vor allem wenn Delius darlegt, wie es ihm letztlich durch einen großartigen Kniff gelingt, die aus der „Siemens-Welt“ gestrichenen Passagen doch noch zu publizieren.
Es ist schwer vermittelbar, wie fesselnd und lehrreich dieses Buch ist, und vielleicht lässt sich dieses Phänomen nur auf den Punkt bringen, wenn man sagt: es sind die bewegliche Sprache und das klare Bewusstsein, die gemeinsam dieses Kunststück vollbringen. Und wohl auch Bescheidenheit, denn Delius lässt sich an keinem Punkt dazu hinreißen, über etwas zu schreiben, von dem er keine Kenntnis hat oder das zu groß wäre für die Perspektive und den Horizont seiner Erinnerungen. Dieser klare Standpunkt macht auch einen großen Reiz des Buches aus. Man wird nicht über die Zeitgeschichte aufgeklärt, man erlebt sie, man denkt mit Delius zusammen über sie nach.
Das Buch:
Friedrich Christian Delius: Als die Bücher noch geholfen haben. Hamburg 2014 (Rowohlt Verlag).
336 Seiten, 9,99 €, ISBN 978-3-499-26782-6.
Der Autor:
Mehr von und zu Friedrich Christian Delius gibt es auf seiner Website
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