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Die (beträchtlichen!) Leiden des jungen Kress

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Die Welt ist eine Zumutung, jedenfalls für Kress. Wohin er sieht, Mittelmaß, Dummheit, Ignoranz. Einzig die Universität ist in Grenzen ein erträglicher Ort, dort studiert Kress die Großen, Goethe, Kleist, Kant, eben was im 19. Jahrhundert Rang und Namen hatte. Nach dieser glanzvollen Epoche ging es im Grunde bergab, steil, für Kress bis nach Berlin-Neukölln. Dort lebt er in einer winzigen, unsanierten Hinterhofwohnung und führt bei Ketchuptoast und Multivitamintabletten philosophische Gespräche mit dem Tauberich Gieshübler, dem Einzigen, der ihn versteht. Aber dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Kress verliebt sich. Und sieht sich auf einmal gezwungen, all das zu tun, was andere in seinem Alter anscheinend so machen: Wochenendausflüge, Partys, Small Talk. Kress scheitert grandios, an der Welt, an sich selbst. Aber er macht weiter, scheitert wieder, scheitert besser, und am Ende gibt es selbst für jemanden wie ihn noch Hoffnung. Mit dunkler Komik und zarter Melancholie gelingt Aljoscha Brell ein beeindruckendes Debüt – und ganz nebenbei ein wunderbarer Berlin-Roman.

(Offizieller Verlagstext/Klappentext)


Buchkritik

Ende letzten Jahres fand eine Lesung von Aljoscha Brell im schönen Café Livres in Essen statt, organisiert von „Das Debüt“. Weil ich mit Sarah J vom Debüt in kollegialem Kontakt stehe und obendrein in Essen wohne, war ich auch dort. Der Autor las aus seinem Debütroman „Kress“, der hier besprochen werden soll. Vor Ort und anhand der vorgetragenen Auszüge war ich unschlüssig, was ich von dem Buch halten sollte. Ich hatte den Verdacht, es könne möglicherweise ein weiteres Stiefkind des ´Subgenres´ „ein Außenseiter in Berlin findet Liebe“ sein. Und ich gehe innerlich immer gleich ein bisschen auf Abstand, wenn sehr offensichtlich einige der typischen erfolgversprechenden Komponenten den Plot eines Buches ausmachen. Ich vermute Kalkül. Und zweifle zugleich an einer intrinsischen Motivation der Verfasserin oder – wie in diesem Fall – des Verfassers. Denn natürlich: Berlin ist immer super und ein Pluspunkt. Und irgendein Sonderling wird auch immer gerne genommen. Und wenn der sich dann auch noch in eine allgemein anerkannte und scheinbar unerreichbare Schönheit verliebt, ist eigentlich alles beisammen, was es braucht, um mit seinem Stoff gut anzukommen.

Berlin, Berlin (Exkurs)

Im Rahmen der Lesung im Café Livres erzählte der Berliner Autor Aljoscha Brell davon, dass die Leute immer glaubten, dass es in Berlin leicht sei, als Autorin oder Autor zu einer Buchveröffentlichung zu gelangen. Im selben Atemzug fügte er hinzu, dass das natürlich nicht so sei. Ich möchte sagen: Es ist vielleicht nicht leicht, aber es hilft. Es hilft, als Wohnort Berlin angeben zu können, und es hilft, als Berliner ein Buch zu schreiben, das in Berlin spielt, um die Erfolgschancen im Literaturbetrieb zu erhöhen. Das sage ich als jemand, der selber schreibt, nicht in Berlin lebt, aber immer wieder erlebt (entweder auf der einen oder anderen literarischen Preisverleihungsveranstaltung oder auch nur per Newsletter), wie die Preise in schöner Regelmäßigkeit an die Leute in Berlin vergeben werden. Und das geschieht in einer solchen Unverhältnismäßigkeit in Bezug auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus anderen Gefilden, dass man darüber ins Grübeln geraten kann. Kann es tatsächlich so sein, dass die Leute in Berlin einfach alle besser schreiben können als diejenigen im übrigen Deutschland? Impft diese Stadt ihren Dichterinnen und Dichtern dermaßen viel Talent, Kreativität und Originalität ein, dass dagegen alle anderen nur abstinken können? Hm. Es tut mir leid, aber es fällt mir schwer, das zu glauben. Klar, in Berlin passiert viel, es gibt viel zu sehen und zu erleben, keine Frage. Aber dass man allein dadurch in die Lage versetzt wird, die besseren Texte zu schreiben? Auch woanders passiert etwas, und auch woanders gibt es Menschen, die denken und schreiben können. Und doch hat es den Anschein, dass mindestens jeder zweite Literaturpreis an jemanden aus unserer schönen Hauptstadt vergeben wird.
Was ist es also, das die Berlinerinnen und Berliner offenbar so viel besser schreiben lässt? Ich würde es wirklich gerne wissen. Damit ich davon lernen kann und vielleicht auch ein paar mehr Preise gewinne… Denn: dass sich die Jurorinnen und Juroren durch die Angabe des hippen und trendsetzenden Wohnorts Berlin bewusst oder unbewusst ein wenig in ihrer Entscheidungsfindung beeinflussen lassen könnten – daran möchte ich nicht glauben. Das wäre doch wohl auch ein bisschen sehr weit hergeholt, nicht wahr?! Aber genug davon.

Zurück nach Essen

Jedenfalls, auch die Lesung von Aljoscha Brell konnte meine Zweifel oder Vorbehalte nicht vollends zerstreuen, dass es sich bei „Kress“ lediglich um ein belangloses Büchlein handeln könnte, bei dem die Parameter stimmen, um es gut zu verkaufen. Zwar hat der Autor gut gelesen und die vorgetragenen Passagen waren teils sehr unterhaltsam; allerdings kamen mir manche Passagen teils auch einigermaßen bekannt vor – immer dann, wenn es darum ging, die Hauptfigur Kress in seinem Selbstbild kontrastierend zur Umwelt darzustellen.

“Wirklich, dachte Kress, es durfte einen nicht weiter verwundern, dass diese ganze Generation nur aus Schwätzern bestand, wenn diese ganze Generation den lieben langen Tag nichts anders tat als schwatzen. Er, Kress, war der letzte Denker, und er griff nach dem Bleistift und notierte eben diesen Begriff, Der letzte Denker, in seinen Notizblock – nur für den Fall, dass er irgendwann einen Titel für eine Autobiographie suchen müsste.”

Im Anschluss an die Lesung kam ich mit dem Autor ins Gespräch, recht sympathisch übrigens. Da alle vorhandenen Buchexemplare von „Kress“ bereits verkauft waren, bot er mir an, dafür zu sorgen, dass mir der Ullstein-Verlag ein Rezensionsexemplar zuschicken würde. Als dies auch nach zwei oder drei Wochen noch nicht geschehen war, war ich etwas enttäuscht, schrieb nun meinerseits direkt die zuständige Literaturagentin und dann den Verlag an. Jetzt wollte ich es wissen. Und wenn das Buch mich nicht überzeugen würde, bekäme Aljoscha Brell für sein gebrochenes Versprechen meine Rache zu spüren!

Die Lektüre

Schließlich kam das Buch doch noch bei mir an. Ich begann zu lesen. Den Anfang kannte ich bereits aus dem Café Livres. Kress, der Sonderling, wird eingeführt. Und wie oben bereits angedeutet, ist diese Figur als Typus nicht neu. Schließlich gibt es schon einige Bücher über intellektuelle Sonderlinge, man denke nur einmal an den Kien aus Elias Canettis „Blendung“ – übrigens ein großartiger Roman, einer meiner Lieblinge.
Hier haben wir also eine Variation dieses bekannten Typus – ein Figurentyp, an dem auch ich mich bereits literarisch versucht habe und immer noch versuche, weil ich solche Figuren ebenfalls reizvoll finde. Wahrscheinlich rühren auch von dieser vermeintlichen Konkurrenz meine argwöhnische Skepsis und Zurückhaltung her, mit denen ich an die Lektüre dieses Buches herangetreten bin. Aber sei es drum, es handelt sich schließlich um einen Typus, der sich durch bestimmte Attribute und eine bestimmte Einstellung gegenüber der ihn umgebenden Welt auszeichnet und definiert. Von daher wäre es nicht fair zu erwarten, dass Aljoscha Brell diesen Typus ganz neu erfindet. Was er auch nicht tut. Aber: Er fügt eine neue, eigenständige Variation hinzu. Und das ist nicht zu wenig. Zudem musste ich feststellen, dass mir der Stil gut gefällt und alles sehr stimmig erscheint. Das etwas Umständliche und Steife, aber auch Analytische im Denken von Kress werden wirksam dargestellt, die direkte Rede der Figuren im Allgemeinen und diejenige des Dozenten Schleicher im Besonderen scheint mir sehr gelungen.

Die Überraschung

Was mir aber vor allem gefallen hat an dem Buch, ist der Verlauf, den die Geschichte nimmt. Anfänglich scheint Kress´ Leben seinem, wenn auch seltsamen, so doch geregelten Ablauf zu folgen. Er wechselt zwischen Hinterhofwohnung und Universität hin und her, spricht zwischendurch mit dem Tauberich Gieshüber, überlegt, wie er den Realitäten finanzieller Notwendigkeiten begegnen kann. Dann lernt er gleich zwei Kommilitoninnen kennen, und in eine der beiden glaubt er, sich verliebt zu haben. Und was hier nun launig beginnt und infolge des Klappentextes auch zu erwarten wäre, erhält eine überraschende Wende. Es wird ernst.

Die zunehmende äußere und innere Verwahrlosung des Antihelden Kress, in Folge nicht nur unerwiderter Gefühle (oder ist es bloße Projektion?), sondern auch einer stattfindenden Kränkung durch die Art der Abfuhr, und der darauf folgenden obsessiven Observation der von ihm zuerst verehrten, dann verachteten Person, ist eindrücklich beschrieben.An dieser Stelle sei nun aber nicht zu viel verraten und vorweggenommen für diejenigen, die das Buch eventuell noch lesen möchten. Sehr schön: Der Schluss. Das letzte Wort des Romans öffnet eine neue Welt, die zuvor verschlossen war, ein neues Leben kann beginnen – in doppelter Hinsicht. Um diesen Schluss beneide ich den Autor ein wenig. Den hätte ich mir auch gerne einfallen lassen. So einfach, wie effektiv.

Fazit

Jedenfalls, ich kann nichts Schlechtes über das Buch sagen, sondern nur Gutes. Würde ich etwas daran bemängeln, wäre es Korinthenkackerei meinerseits; es würde sich um Marginalien handeln, die vermutlich bloße Geschmackssache sind. Der Roman hat mir gefallen, und ich habe ihn gerne gelesen. Aljoscha Brell hat ein schönes Buch geschrieben.

Allerdings, eines sei doch noch gesagt: Der offizielle Klappentext bzw. Verlagstext, er stimmt nicht ganz. D. h., er stimmt weitgehend bis zu dem Punkt, an dem Kress grandios scheitert. Und ja, er macht auch weiter. Aber nein, er scheitert nicht „besser“. Überhaupt, was soll damit gemeint sein? Es klingt zwar gut und hipp, aber was das – erstens – im Allgemeinen bedeuten soll und – zweitens – mit dem Verlauf der Handlung zu tun hat, müsste mir noch erklärt werden. Er scheitert nicht besser, sondern es wird bis zum (hoffnungsvollen) Ende hin immer schlimmer und schlimmer mit ihm.

Ein Berlin-Roman?

Und was „Kress“ in meinen Augen nicht wirklich ist, auch wenn es überall gesagt wird: ein Berlin-Roman. Zwar spielt das Ganze in Berlin, aber die Stadt selbst spielt eigentlich keine tragende Rolle. Die Geschichte würde genauso auch in jeder anderen deutschen Universitätsstadt funktionieren; ob in Hamburg, Leipzig, Köln, Stuttgart, Münster oder – ja, warum nicht? – in Essen oder sonst wo dergleichen. Auch woanders gibt es Universitäten, gibt es Hinterhöfe, gibt es überfüllte U-Bahnen. Aber, ich sage nur: Berlin, Berlin. Eine Marke, die sich gut verkauft.


Nachtrag vom 14.01.2016

Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass sich Aljoscha Brell nach dem Lesen meiner Rezension persönlich per Mail bei mir gemeldet und sich entschuldigt hat für sein Versäumnis, mir ein Rezensionsexemplar zukommen zu lassen. Er hat es vergessen. So etwas kann passieren. Man kann Dinge vergessen, und es sei ihm verziehen. Er hat also nicht nur ein gutes Buch geschrieben, sondern scheint tatsächlich auch ein netter Mensch zu sein.


Das Buch:

Aljoscha Brell: Kress. Berlin 2015 (Ullstein).

336 Seiten, 20,00 €, ISBN: 978-3-550-08109-5


Der Autor:

Mehr von und zu Aljoscha Brell gibt es unter: http://www.aljoschabrell.de/

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